Das Blaue vom Himmel

 

Meine kleine Tochter Inga war sehr krank. Sie liebte ihre Puppen. An guten Tagen spielte sie Schule mit ihnen. Sie ließ ihre Schüler ungewöhnliche Fragen stellen. Warum ist das Meer salzig? Warum haben Zebras Streifen? Warum ist der Himmel blau?

 

Die Antworten, die sie ihren Puppen in den Mund legte, waren genauso ungewöhnlich wie die Fragen: Das Meer ist salzig, weil ein Schiff vollbeladen mit Salzsäcken untergegangen ist. Die Säcke sind geplatzt und das Salz ist ins Meer geflossen. Die Engel haben den Himmel blau angemalt, weil Blau ihre Lieblingsfarbe ist.

Inga war überzeugt, dass ihre Spielgefährten aus Plastik und Stoff nachts lebendig werden.

 

Eines Abends wollte sie es genau wissen. Sie schlich auf leisen Sohlen aus ihrem Bett, öffnete die Tür zu ihrem Spielzimmer einen Spalt breit. Die Puppen und Teddys saßen in Reih und Glied auf dem Sofa, so wie Inga sie plaziert hatte.

 

Wann würden ihre Lieblinge aufwachen?

 

Morgens schaute sie mich vorwurfsvoll an. "Mama, ich musste lange warten, bis meine Freunde endlich munter wurden. Sie bewegten sich nicht, aber sie haben miteinander gesprochen. Ich habe es genau gehört." Ich schmunzelte: "Was haben sie sich denn erzählt?" Ich war gespannt auf das erfundene, nächtliche Abenteuer, das Inga mir auf die Nase binden würde.

 

"Teddy Karlchen hat sich über dich beschwert. Als du klein warst, hast du ihn nicht gut behandelt. Deshalb sieht er so lumpig aus." Betroffen musterte ich meine schlaue Tochter. Woher wusste sie das?

 

Meine Großmutter hatte Karlchen einst aus der Mülltonne gerettet. War er von einem Kind achtlos weggeworfen worden, weil sein Bauch aufgerissen war und Stroh herausschaute? Damals wurde sämtlicher Müll verbrannt. Karlchen war auf wundersame Weise dem Feuertod entronnen. Oma stopfte frisches Stroh in den kleinen ramponierten Körper, wusch ihn und nähte ihm ein neues Kleidchen. Mein Vater war außer sich vor Freude, als er den geflickten Teddy zu seinem fünften Geburtstag geschenkt bekam. Karlchen, sein einziges Kuscheltier wurde sein Freund in guten wie in schlechten Tagen.

 

Als ich vier Jahre alt war, saß Karlchen am Weihnachtsabend unter dem Tannenbaum. Er sah schon wieder ziemlich mitgenommen aus. Das gelbliche Fell stumpf, ein Ohr hing nur noch an wenigen Fäden und statt Knopfaugen klebten Glaskugeln in seinem Gesicht.

 

Ich mochte Karlchen nicht. Lieber spielte ich mit meinen Puppen und mein Eisbär durfte abends mit in mein Bett. Karlchen verbannte ich auf das Regal. So sehr hatte ich mir den flauschigen Teddy gewünscht, der in einem Schaufenster in der Stadt ausgestellt war. Sein blaues Fell glänzte und er lächelte. Kein Kind besaß einen lächelnden, blauen Bären.

 

Karlchen schaute ernst drein. Sollte ich ihn heimlich in der Mülltonne versenken, dorthin zurück befördern, wo er einst herkam? Ich könnte vorgeben ihn verloren zu haben. Als mein Vater sah, dass ich Karlchen misshandelte, wurde er sehr wütend. Ich spielte Krankenhaus und Karlchen war der Patient, dem ich ohne Empathie den Bauch aufschnitt und das Stroh herausholte.

 

Mein Vater schnappte mich und schloss mich zur Strafe in den Keller ein. Durch das kleine Fenster drang nur wenig Licht. Noch einmal öffnete sich die Tür und Karlchen flog in hohem Bogen hinterher. Anstatt den Teddy in die Arme zu schließen und ihn als Tröster und Mitgefangenen an mein Herz zu drücken, warf ich ihn mit Schwung in die Kartoffelkiste. Eine fette, schwarze Ratte sprang aus der Kiste und verschwand in einem Loch in der Wand. Ich schrie wie am Spieß und stellte mir vor, wie weitere Ratten über Karlchen herfielen.

 

Da ging die Tür auf und Mutter stand mit verweinten Augen vor mir. Sie brachte mich nach oben. Karlchen wollte ich nie mehr sehen. Jedoch am nächsten Morgen saß er wieder mit geflickten Füßen in der Ecke auf dem Regal. Gewaschen, das hängende Ohr fest - und der Bauch zugenäht. Ich ignorierte ihn fortan.

 

Inga fand den kleinen Kerl in einer Kiste auf dem Dachboden. Seit diesem Tag gehörte Karlchen zu ihrer Puppentruppe.

 

"Hast du Karlchen wirklich schlecht behandelt?", wollte sie von mir wissen. "Ja", gab ich zu. "Heute tut mir das leid. Willst du dich jetzt um ihn kümmern? Vielleicht vergisst er seine schlechten Erinnerungen mit mir. Ich glaube, er hat es verdient gemocht zu werden."

 

Inga begutachtete den alten Teddy. Sie untersuchte ihn von Kopf bis Fuß. Nach einer Weile kramte sie das schönste Puppenkleid hervor und zog es Karlchen an.

 

Das Kleid war blau. Blau wie der Himmel. "Ich freu mich auf die Engel. Karlchen freut sich auch. Wir haben dieselbe Lieblingsfarbe," sagte Inga bevor sie ging.

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