Das Omen

Langsam legte sich der Flieger in die Kurve. Die quirlige Millionenmetropole verschwand unter den Wolken. Zwei Stunden später landete die Maschine in einer anderen Welt. Peter freute sich darauf seinen Jugendfreund Harry endlich wiederzusehen. Seit 5 Jahren hatten die Freunde sich nicht mehr gesehen. Harry war mit seiner Frau Gung von Bangkok in ihre Heimat, den Isaan gezogen.

 

Hier hatte Harry auf dem Grundstück seiner Schwiegereltern ein stattliches Haus bauen lassen. In Deutschland hätte er sich das villenartige Anwesen nicht leisten können. Selbst hier zahlte er einen hohen Preis. Er hatte Gungs Mutter, Vater, Großvater, eine unverheiratete Schwester zu ernähren und dafür zu sorgen, dass es ihnen an nichts fehlte. Das war die Bedingung die Gung stellte, als er um ihre Hand anhielt.

 

Die Männer umarmten sich."Schön, dass du da bist. Wir müssen uns beeilen. Zuhause ist die Hölle los". Harry schnappte sich den Koffer seines Freundes und stürmte voraus zu den parkenden Autos. "Hast du schon mal eine buddhistische Beerdigung erlebt?" wollte er von Peter wissen. "Nein, wer um Himmels willen ist denn gestorben?" Peters Stimme klang bestürzt. "Der Opa ist gestern von uns gegangen. Er ist 82 Jahre alt geworden. Jetzt ist das Haus voll. Verwandte, Nachbarn, das halbe Dorf belagert uns." Harry schien nicht traurig zu sein, eher genervt.

 

Peters Vorfreude auf die Zeit mit seinem Freund schmolz wie Butter in der Sonne. Er wollte Spaß haben zusammen mit Harry, die Gegend erkunden, nette Leute treffen. Stattdessen wartete nun eine Trauergesellschaft auf die beiden Männer. Am liebsten wäre Peter gleich wieder in den nächsten Flieger zurück nach Bangkok gestiegen.

 

Die Stadtgrenze war schnell erreicht. Der Pick-up rauschte an weitläufigen Reisfeldern, Maniok-sowie Zuckerrohrparzellen, durchbrochen von Eukalyptusalleen gesäumten Kanälen vorbei. Die Männer schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach, obwohl es doch so viel zu erzählen gegeben hätte.

 

Als sie die Villa am Rande des Dorfes erreichten, glaubte Peter seinen Augen nicht zu trauen. Heerscharen von Menschen tummelten sich im Garten. Dutzende traditionell gekleidete Personen wuselten durch die Räume im Gebäude. Gung kam auf Peter zu und begrüßte ihn herzlich. Sie führte ihn zu ihren Eltern und stellte ihn vor. Artig kondolierte der Gast und wurde von Harry zum Sarg des Verstorbenen geführt. Peter wunderte sich darüber, dass keiner zu trauern schien. Der Großvater lächelte mit bleichen Lippen. Harry legte zu Hände zusammen und führte sie zur Stirn und verbeugte sich vor dem Toten. Peter tat es ihm gleich. Er wusste, dass der Wai nicht nur ein Gruß, sondern auch ein Zeichen des Respekts in Thailand darstellt.

 

Rund um den Sarg saßen Familienmitglieder, zockten, schauten TV, sangen schwermütige Balladen, manche schliefen, einige ließen Schnaps-und Bierflaschen kreisen. "Feiern die eine Party? Ich dachte, Glücksspiele wären bei euch verboten."

 

"Bei Beerdigungen drückt die Polizei ein Auge zu", belehrte Harry seinen Freund. "Der Tod wird hier völlig verschieden wahrgenommen, als bei uns. Man feiert das Hinübergleiten in eine andere Dimension, sozusagen eine andere Ebene der Existenz. Ein Ereignis, vergleichbar mit einer Geburt. Der Tod gehört zum Leben dazu. Buddhisten glauben daran, dass sie immer wieder geboren werden, bis sie die Erleuchtung erreicht haben." "Bist du Buddhist geworden?" Peter musterte seinen Freund von der Seite. "Nein," Harry schüttelte den Kopf. "Aber mir ist der Gedanke angenehm, dass sich der Geist des Menschen einen neuen Körper sucht. Du musst natürlich an deinem Karma arbeiten. Sonst kommst du demnächst als Kloputzer in Kalkutta auf die Welt." Lachend ließ er Peter stehen, um Getränke zu organisieren.

 

Peter beobachtete die Frauen, die emsig ständig frische Speisen zubereiteten. Der fette Schweinekopf im Topf starrte ihn aus leeren Augen an. Leute aus dem Dorf kamen, sprachen mit Gung und übergaben ihr einen Geldbetrag, um sich dann genüsslich dem Essen zu widmen.

 

Harry kam zurück und stellte zwei Flaschen Bier auf den Tisch. "Schau, da kommen die Mönche," er prostete Peter zu. Ein Songthaeo knatterte die Auffahrt zum Anwesen hinauf. Die Sammeltaxis gehören in Thailand zu den allgegenwärtigen Fortbewegungsmitteln. Es sind umgebaute Lieferwagen mit überdachter Ladefläche. Man hockt sich auf zwei Längssitzbänken gegenüber.

 

Neun Mönche, in safrangelbes und orangefarbenes Tuch gewickelt, kletterten aus der Klapperkiste. Zu Peters Erstaunen zückten einige von ihnen Smartphones aus Umhängetaschen und fotografierten das Haus oder schossen Selfies. Das 21. Jahrhundert ließ grüßen. Sie waren aus der nahegelegenen Kleinstadt gekommen. Der hiesige Tempel wurde nur von einem Mönch bewohnt, eindeutig zu wenig für eine standesgemäße Trauerfeier einer angesehenen Familie.

 

Gung und Harry begrüßten die Geistlichen ehrerbietig. Die Priester stellten sich um den Sarg herum auf, murmelten Mantras, beteten und sangen. Die Zeremonie dauerte nicht sehr lange. Scheinbar hatten sie Hunger. Gungs Mutter führte die Truppe zur Speisung in ein eigens dafür hergerichtetes Zimmer. Mönche dürfen nach 12 Uhr mittags bis zum nächsten Morgen nichts mehr essen.

 

"Wenn sich die heiligen Männer gestärkt haben, geht es los," erklärte Harry. "Der Sarg wird von den Familienangehörigen zum Krematorium am Tempel getragen und dort verbrannt." Der mit unzähligen Blumengebinden geschmückte Sarg hatte keinen Deckel. Über Großvaters Antlitz wurde sorgfältig ein weißes Tuch gelegt. "Du bist auserkoren worden, zusammen mit meinen Verwandten und mir den Sarg zu tragen. Das ist eine große Ehre." Harry schaute seinen Freund streng an. Er duldete keinen Widerspruch. Wahrscheinlich ahnte er, dass sein Kumpel sich gern vor dieser Aufgabe gedrückt hätte.

 

Der Trauerzug begann sich zu formieren. Vorneweg die Mönche. Sie hielten eine weiße Kordel in der Hand, die am Sarg befestigt war. Zu sechst hoben sie den Sarg, drei Träger auf jeder Seite. Die Familienangehörigen direkt hinter dem Sarg, umklammerten ebenfalls eine weiße Kordel, die die Verbundenheit mit dem Toten kundtun sollte. Eintönige Musik schallte aus den Lautsprechern und die Formation setzte sich in Bewegung Richtung Tempel, der nur wenige hundert Meter entfernt lag.

 

Leise schnaufend wunderte Peter sich darüber, dass der Sarg so schwer war. Der Opa war doch ein zierlicher Mann gewesen. Vermutlich brachte der Blumenschmuck und der aus Tropenholz gefertigte Sarg ordentlich Gewicht zusammen.

 

Kurz bevor sie den Tempel erreichten, hob aus heiterem Himmel ein jäher Windstoß das Leinentuch an. Peter versuchte es festzuhalten und stolperte. Die anderen Träger bemühten sich, den Sarg abzufangen. Zu spät. Das Unglück nahm seinen Lauf. Die Blumendekoration rutschte, fiel zu Boden, die Leiche hinterher. Ein Raunen ging durch die Menge. Alle starrten den Deutschen an. In diesem Moment wünschte Peter so sehr, ein Loch täte sich im Erdboden auf, in welches er für immer versinken möge.

 

Da lag der Großvater nun im Straßengraben. Nach der ersten Schrecksekunde löste sich eine junge Frau aus der Schar der Trauergäste. Sie trat zu den Mönchen. Harry kam hinzu und übersetzte:

 

"Das ist ein Zeichen Buddhas. Der Verstorbene hat einst hier, genau an dieser Stelle einen verletzten Hund gerettet, der von einem Auto angefahren wurde und nicht mehr laufen konnte." Peter blickte der attraktiven Lady in die Augen. Sie lächelte ihn an. Sein Herz begann wie wild zu schlagen, nicht nur aus Dankbarkeit.

 

Gung bestätigte die Aussage der Frau. " Opa hat dem Hund das Leben gerettet. Chok Di kann zwar nur noch auf 3 Beinen laufen, aber er lebt seit seinem Unfall bei uns und kommt gut zurecht." Daraufhin steckten die Mönche ihre Köpfe zusammen, um sich zu beraten. Es war mucksmäuschenstill. Peter wagte nicht, seinen Blick zu heben. Der Tempelvorsteher trat hervor und empfahl der Familie, den Leichnam nicht wie vorgesehen im Krematorium, sondern an Ort und Stelle zu verbrennen. Man könne das Ereignis nicht ignorieren. Es wäre ein Omen.

 

Behutsam legten die Verwandten den Opa zurück in den Sarg, der am Straßenrand geduldig auf Verwendung wartete. Die jüngeren Dorfbewohner begannen sogleich Holz für den Scheiterhaufen zusammenzutragen. Niemand schien es zu kümmern, dass Harrys Freund aus Deutschland den Vorfall zu verantworten hatte. Das Geschehnis wurde zu Buddhas Wille erklärt. Harry klopfte seinem peinlich berührten Kamerad auf die Schulter "Sarg tragen gehört anscheinend nicht zu deinen größten Gaben, mein Freund. Mach dir nichts draus. Waranya hat ihrem Namen alle Ehre erwiesen." Peter schaute Harry verständnislos an. "Der Name Waranya heißt übersetzt die wissende Frau." Er winkte die schöne Unbekannte herbei, die die Situation für Peter entschärft hatte. "Darf ich dir Waranya vorstellen?"

 

Peter und die Schöne begrüßten sich schüchtern. Gung beauftragte beide, Papierblumen zu holen, die im Tempel bereit lagen. Kurz bevor sie den Tempel erreichten, hielt Waranya inne. "Wann fliegst du zurück?" Auf diese Frage war Peter nicht gefasst. Ehe er antworten konnte, drückte der allein lebende Mönch jedem von ihnen einen großen Korb voller wunderschön gebastelter Blumen in die Hand. Als sie zurückkehrten, war der Scheiterhaufen errichtet worden. Die Mönche hatten sich auf einer eilends zusammengezimmerten Holzplattform niedergelassen und sprachen Gebete.

 

"Bitte hilf mir, die Papierblumen zu verteilen, damit die Trauernden dem Großvater etwas mitgeben können, wenn sein Geist den Körper verlässt," bat Waranya mit sanfter Stimme. Peter folgte ihrer Bitte. Die Dorfgemeinde zog an dem Sarg vorbei und alle warfen die Blumen hinein. Gung und ihr Vater besprengten den Toten mit gesegnetem Wasser.

 

Als der letzte seine Papierblume losgeworden war, ertönte ein Zischen und Peter bemerkte eine brennende Zündschnur. Die Flamme bahnte sich ihren Weg. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Nur der Deutsche zuckte zusammen. Eine Rakete krachte mit voller Wucht in den Holzhaufen, wo sie das Feuer entfachte. Waranya stand dicht neben ihm. " Wir glauben, dass der Geist des Menschen unzerstörbar ist. Wir müssen es ihm leicht machen in den neuen Zustand zu gelangen. Die Böller sollen böse Geister vertreiben, die es überall gibt und die Ungutes im Schilde führen. Wenn das Feuer erloschen ist, geht die Trauergemeinde heim. Gung und Harry werden heute Abend die Asche und die sterblichen Überreste in eine Urne füllen. Morgen wird die Familie die Urne in den Tempel bringen."

 

Peter war fasziniert. Es war ihm kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn sie sprach. Die Welt um ihn herum stand still. Schmetterlinge in seinem Bauch tanzten wild umeinander. Waranya blickte ihn mit ihren tiefgründigen, dunklen Augen leidenschaftlich an und nahm seine Hand. Sein Herz pochte bis an die Schläfen. Ihre Ausstrahlung, der grazile Körperbau, das ebenmäßige Gesicht, die sanft geschwungenen Lippen und das tiefschwarze, glänzende, lange Haar übten eine magische Anziehungskraft auf den Europäer aus. Wie im Rausch führte er ihre Hand an seine Wange.

 

"Nächste Woche," hörte er sich sagen. "Der Flug." Waranya nickte.

 

Jemand rüttelte ihn unsanft. "Hey, wach auf, dein Flieger wartet nicht auf dich." Peter sprang aus dem Bett und folgte Harry, der sich an den Frühstückstisch auf der Veranda setzte. Die Reissuppe duftete köstlich. "Schau, wer da kommt," Gung stellte eine weitere Schüssel für Suppe auf den Tisch. Eine zierliche Person näherte sich der Villa. Waranya trug einen Koffer.

 

...Peter schloss die Wohnungstür auf. Waranya stand direkt hinter mir, unsicher hin-und her trippelnd. Martina eilte aus der Küche, die Kinder jagten die Treppe hinunter, um den Vater bzw. Ehemann zu begrüßen. Als sie Waranya sahen, wichen alle drei zurück. "Wer ist das?", fragte Martina.

"Meine zukünftige Frau!"

 

 

 

 

 

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